Ostern

Zu Geburtstagen und hohen Feiertagen rottete sich auch meine Familie rituell zusammen. Ostern zum Beispiel war eine prima Sache, konnte aber definitiv nicht mit Weihnachten mithalten. Es gab zwar ähnlich viele Feiertage, aber die Ausbeute war eindeutig geringer. Außerdem musste Ostern immer ein Spaziergang gemacht werden, weil es tagsüber gefeiert wurde und außerdem in den Frühling fiel.

Ostersonntag wachte ich lange vor meinen Eltern auf und suchte die Wohnung nach Eiern ab, packte alle in ein mit grünem Kunstgras und einigen Schokoladeneiern gefülltes Nest und wartete auf Lebenszeichen aus dem elterlichen Schlafzimmer. Wenn mir das zu lange dauerte, lief ich laut schreiend durch die Betten. Mein Vater war spätestens dann wach, wenn ich dabei seine Magenoperationsnarbe traf. Dann saßen wir in der Küche und pellten und aßen die Eier. Zwei Stück pro Nase waren Pflicht. Wenn die Farbe durch die Schale ins Ei eingedrungen war, kam ich mir beim Hinunterwürgen vor wie ein Held.

Gegen Mittag machten wir uns auf den Weg zu Omma und Oppa, die damals noch im Rathaus wohnten. Der Weg war nicht lang, nach zehn Minuten waren wir da. Meine Omma bildhauerte in der Küche am Osteressen herum, meistens (wie auch zu Weihnachten) mit Speck und Zwiebeln gefüllte Rindsrouladen, von einem Bindfaden zusammengehalten, damit sie im Topf nicht auseinanderrollten. Für jeden war eine da, plus einer zusätzlichen, die ich mir am Ende mit meiner Mutter teilte.

Während Omma in der Küche, über den Topf gebeugt, mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte, auf dass er nicht die Soße versalze, hockte mein Oppa im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sah sich einen Tierfilm an und arbeitete an der ersten Flasche Export. Irgendwann hatte mein Oppa eine Vorliebe für Tierfilme entwickelt. Hatte ich bei Spielfilmen oder Fußballübertragungen bisweilen das Gefühl, er sehe da gar nicht richtig hin, schien er bei Tierfilmen voll bei der Sache zu sein. Da nickte er oder schüttelte den Kopf. Einmal war da eine Szene, wo ein Gepard neben irgendeinem Vieh mit Hörnern herhetzte, ihm dann ins Genick sprang, es zu Boden drückte und mit beeindruckender Effizienz tötete. Diese Sequenz schien Oppa ganz besonders zu gefallen. Er verengte die Augen ein wenig, wie um besser sehen zu können, und dann stahl sich ein Grinsen in seine Mundwinkel. Er bemerkte, dass ich in der Tür stand, sah mich an und sagte nur: »Siehste!«

Ostersonntagmittag begrüßten die Erwachsenen einander mit »Frohe Ostern!«, und ich kroch unter Schränke, Betten und Vertikos und suchte Eier. Hatte ich alle gefunden, packte ich die in genauso ein Nest, wie ich es auch zu Hause hatte.

Hier allerdings sah ich erst mal unter dem Gras nach, denn da lagen immer fünfzig Mark.

Am niedrigen Couchtisch wurde dann gegessen und alle beugten sich sehr weit über die Teller, um das Ostersonntags-outfit nicht vollzukleckern. Das gelang auch allen, außer mir. Meine Mutter hat früh darauf verzichtet, mich zu Ostern in ein weißes Hemd zu stecken. Zu den Rouladen gab es Kartoffeln, Erbsen und Möhren und Kappsalat. Mein Vater aß mit sehr viel Soße, Oppa mit sehr wenig. Letzterer matschte sich das zusammen, bis es aussah wie Fensterkitt, nur nicht so grau. Dazu lief im Fernseher weiter der Tierfilm.

Nach dem Essen wurde es langweilig. Mutter und Omma verzogen sich in die Küche und machten die Frauenarbeit: abwaschen. Vater und Oppa blieben im Wohnzimmer und rauchten. Mein Vater versuchte, mit meinem Oppa das zu machen, was man heute als »Konversation« bezeichnen würde. Mein Oppa war jedoch diesseits der 1,0-Promille-Grenze ein eher schweigsamer Mann und außerdem sehr von den Tierfilmen gefesselt. Nach dem Abwasch kamen die Frauen dazu und rauchten auch. Ich machte mich über die Schokoladeneier her, wurde aber von meiner Mutter zurückgepfiffen, schließlich hätte ich doch gerade erst gegessen.

Nach dem Essen war der Osterspaziergang dran. Wir drehten eine Runde durch die Innenstadt, da das Rathaus nun mal mittendrin lag und niemand einsah, extra noch irgendwo hinzufahren. Nur Oppa blieb zu Hause. Er verließ nur ungern die Wohnung. Außerdem liefen in der Stadt keine Tierfilme. Meine Mutter und meine Omma blieben vor jedem Schaufenster stehen und begutachteten Jacken, Blusen und Mäntel. Meinem Vater ging das auf den Wecker, weshalb er immer ein paar Meter vorneweg ging und von Zeit zu Zeit schmollend wartete, dass die Frauen aufschlössen. Ich pendelte zwischen allen hin und her und versuchte, auf mich aufmerksam zu machen.

Zurück in der Wohnung von Omma und Oppa machte auch mein Vater die erste Flasche Bier auf. Allerdings trank er Pilsener. Mutter und Omma rauchten und redeten. Ich machte mich heimlich über die Schokoladeneier her, bis mir schlecht war. Wenn es dunkel wurde, gingen wir nach Hause.

Am Ostermontag gingen wir noch mal rüber zum Resteessen und fuhren dann mit dem Auto zum Kaffeetrinken zu meiner anderen Omma, die nicht mehr so gut zu Fuß war. Da gab es dann noch mal fünfzig Mark, aber keine Schokoladeneier, und die fünfzig Mark waren auch nicht unter dem Gras versteckt, sondern in einem Umschlag, zusammen mit einer Karte, auf der in silbernen oder goldenen Lettern gedruckt stand: »Ein frohes Osterfest« oder etwas Ähnliches, von meiner Omma in zittriger Schrift ergänzt durch: »... wünscht Dir Deine Oma.« Konsequent schrieb sie Oma nur mit einem »m«. Sie fragte, wie es bei Omma Rathaus gewesen sei, und ob wieder die ganze Zeit der Fernseher gelaufen sei. Ich erstattete wahrheitsgemäß Protokoll und meine Eltern drehten die Augen Richtung Decke. Mein Vater trank dann ein Bier, begleitet vom Kopfschütteln meiner Omma, die das nicht gut fand, gleichwohl aber immer mehrere Flaschen vorrätig hatte. Wir saßen unsere zwei Stunden ab und gingen wieder.

Am Abend saßen dann meine Eltern in ihrem eigenen Wohnzimmer und beklagten sich darüber, wie anstrengend Ostern mit der Familie doch sei. Und ich hockte in der Ecke und mummelte noch ein paar Schokoladeneier.

 

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